Ökologie einer aussterbenden Population des Segelfalters Iphiclides podalirius (Linnaeus, 1758) im Heckengäu (Baden-Württemberg, Obere Gäue)
DOI:
https://doi.org/10.26251/jhgfn.165.2009.243-287Schlagworte:
Iphiclides podalirius, Überlebensrate, Deutschland, Präimaginalstadien, Schutz, Habitat, Ökologie, Fund-Wiederfund-UntersuchungAbstract
Zwischen 1992 und 2008 wurden an einer Population des Segelfalters Iphiclides podalirius (Linnaeus, 1758) im Heckengäu (Baden-Württemberg, Obere Gäue) autökologische Studien durchgeführt. Den Schwerpunkt bildeten Untersuchungen zum Eiablage- und Larvalhabitat, zur Überlebensrate der Präimaginalstadien sowie zur Populations- und Arealdynamik. Ergänzend erfolgten Verhaltensbeobachtungen an Raupen und Faltern.
Während zwischen 1992 und 1995 etwa 1.200 Eier, Raupen und Puppen gefunden wurden, konnten im selben Zeitraum nur ca. 30 verschiedene Falterindividuen beobachtet werden. Aufgrund der extremen Seltenheit des Falterstadiums waren Informationen zu Habitatbindung, Vorkommen und Verbreitung des Segelfalters nur über die Entwicklungsstadien zu erlangen. Im Gegensatz zu „klassischen“ Segelfalter-Habitaten nördlich der Alpen (trockenheiße Steilhänge, z. B. an Mosel, Nahe oder im Oberpfälzer Jura) siedelte die im Heckengäu inzwischen erloschene Art in einer ebenen bis hügeligen, ehemals von einem dichten Netz offener Lesesteinriegel geprägten Ackerbaulandschaft innerhalb der Grenzen des Oberen Muschelkalks. Die wichtigsten Larvalhabitate lagen auf dem Schotterkörper einer stillgelegten Bahnlinie und auf gehölzarm gebliebenen Lesesteinriegeln. Ein Großteil der Eier und Raupen (95%) fand sich an Schlehe (Prunus spinosa). Neben Zwetschge (Prunus domestica ssp. domestica) und Felsenkirsche (Prunus mahaleb) wurden als neue Eiablagepflanzen für Baden-Württemberg die Sauerkirsche (Prunus cerasus) und die Süßkirsche (Prunus avium) nachgewiesen. Bei der Eiablage wurden kleinwüchsige, im nahezu vegetationslosen Schotterkörper wachsende, gut besonnte Büsche mit waagerecht abstehenden Ästen deutlich bevorzugt. Die Ablagehöhen lagen meistens unter 85 cm (hauptsächlich 15–25 cm), nur in einem Fall oberhalb von 2 m (in 6 m Höhe an Süßkirsche).
Das anhand von Ei- und Raupenfunden ermittelte Areal der Population im Heckengäu war seit 1993 nur noch rückläufig. Es verkleinerte sich von 140 km2 (16 Ei-/Raupenfundstellen 1992/93) auf 14 km2 (3 Fundstellen 1995). Ab 1994 war das Vorkommen vollständig auf die stillgelegte Bahnlinie begrenzt, 1996 konnten nur noch in 2 von ursprünglich 5 Teilgebieten der Bahnlinie Entwicklungsstadien aufgefunden werden. Seit 2000 fehlen jedoch Ei- oder Raupenfunde, so dass die Population inzwischen als erloschen gelten muss. Die Gesamtzahl aller jährlich aufgefundenen Eier, Raupen und Puppen lag von 1993 bis 1995 jeweils zwischen drei- und vierhundert (1993: 366, 1994: 304, 1995: 395). 1996 sank die Fundzahl auf weniger als 100 Eier und Raupen ab. Hauptursache des Erlöschens war mit großer Wahrscheinlichkeit das zu geringe Angebot an geeigneten Larvalhabitaten (fehlendes Auf-den-Stock-Setzen von Sukzessionsgehölzen, Aufgabe der Feldsteindeponierung auf Steinriegeln). Zusätzlich oder in Kombination mit Habitatdefiziten dürften auch ungünstige Witterungsverläufe während der Flugzeit und der Larvalentwicklung eine Rolle beim Erlöschen des Vorkommen gespielt haben, möglicherweise auch genetische Einflüsse aufgrund der weiträumigen Isolation bei sehr geringer Populationsgröße.
Verhaltensbeobachtungen an Raupen fanden vor allem gegen Ende der Larvalentwicklung statt, insbesondere während der Wanderung zum Verpuppungsort und der darauf folgenden Verpuppungsphase, die in der Literatur bislang nicht im Freiland untersucht wurde. Die Suche nach einem geeigneten Verpuppungsplatz (Wanderung) dauert meistens 1–2 Stunden, die ausgewählten Verpuppungsorte liegen in der Regel weniger als 150 cm von der Wirtspflanze entfernt, sowohl an Gräsern und krautigen Pflanzen, wie auch unter Steinen im Schotterkörper von Steinriegeln oder Bahndämmen.
Die Raupen werden von einer Vielzahl natürlicher Feinde dezimiert (Vögel, Wanzen, Milben, Spinnen, Parasitoide). Bemerkenswert waren die hohen Verluste im Präpuppen- und frühen Puppenstadium durch Ameisen, welche die in dieser Entwicklungsphase wehrlosen Individuen aushöhlen.
Die Untersuchungen an Faltern erbrachten trotz sehr geringer Zahl markierter Individuen relevante Ergebnisse, wahrscheinlich begünstigt durch überwiegend regnerische Witterungsbedingungen zur Flugzeit. So konnten 1995 von 18 markierten Faltern neun z. T. mehrfach wieder gefunden werden. Drei Weibchen wurden innerhalb von drei Wochen jeweils fünfmal an derselben Stelle bei der Eiablage beobachtet, das älteste Weibchen wurde mindestens 22 Tage alt. Es konnte belegt werden, dass sich frisch geschlüpfte Falter an den nächstgelegenen Erhebungen („Hilltopping“-Plätze) zur Paarung treffen. Während die Männchen dort verbleiben, kehren die Weibchen zunächst in ihre Entwicklungshabitate zurück, um dort mit der Eiablage zu beginnen. Nur bei günstigen Witterungsbedingungen erfolgen Ausbreitungsflüge in die Umgebung, wo an geeigneten Stellen weitere Eier abgelegt werden. Ein 2 km langer Dispersionsflug eines markierten Weibchens konnte im Juni 1996 nachgewiesen werden, nachdem dasselbe Individuum zuvor mehrmals an seinem Schlupfort bei der Eiablage beobachtet worden war.
Erstmals wurden im Freiland Fund-Wiederfund-Untersuchungen an Präimaginalstadien durchgeführt. Ermöglicht wurde dieser Ansatz durch die extreme Standorttreue der Raupen, die in der Regel bis kurz vor der Verpuppung auf dem Eiablagezweig verbleiben. Indem die Ablagepflanze markiert und der belegte Zweig genau vermessen wurde, konnten die Raupen individuell wieder gefunden werden. Auf diese Weise wurde 1993 von 343, 1994 von 278 als „Erstfund“ aufgenommenen Individuen deren weitere Entwicklung verfolgt (im Idealfall bis zum im nächsten Jahr schlüpfenden Falter). Für die Jahre 1993 und 1994 konnten die Überlebensraten vom Ei bis zum Falter ermittelt werden (1993: 0,95%, 1994: 2,5%). Im Mittel müssen etwa 60 Eier abgelegt werden, damit im darauf folgenden Jahr mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Falter schlüpft. Nur in drei Larvalhabitaten, die im Vergleich zu den meisten übrigen noch ein größeres Angebot geeigneter Eiablagepflanzen aufweisen, wurde eine erfolgreiche Reproduktion nachgewiesen.
Das Vorkommen im Untersuchungsgebiet stand vermutlich nicht mehr in einem regelmäßigen Individuenaustausch zu den nächstgelegenen Populationen auf der Schwäbischen Alb (70 km) und im Tauberland (120 km). Eine mittel- bis längerfristige Wiederbesiedlung des Heckengäus durch „Langstreckenwanderer“ scheint im Falle einer großräumigen Ausbreitung des Segelfalters als Folge der prognostizierten Klimaerwärmung nicht ausgeschlossen, ist kurzfristig jedoch kaum zu erwarten.
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